Ein glorreicher Moment – Teil I

Nicole unterdrückte ein Gähnen, während sie neben ihrer Kollegin stand und die herein tretenden Passagiere begrüßte. Die Geburtstagsfeier einer Freundin von gestern Abend saß ihr noch in den Gliedern.

Die Gäste des heutigen Fluges waren bunt zusammen gewürfelt. Familien, viele Einzelpersonen, ein paar wenige Anzugträger, nichts Spannendes. Nur ein Mann stach etwas hervor, weil er das Flugzeug mit seltsam weit aufgerissenen Augen betrat. Nicole lächelte ihn an und bemerkte aus den Augenwinkeln, dass seine linke Hand irgendetwas in der Hosentasche seiner Shorts knetete. Vielleicht sein erster Flug? Es soll ja noch Menschen geben, die noch nicht mit drei Lebensmonaten auf dem Schoß der Eltern zum ersten Mal die Erde von oben sehen durften.

Das übliche Gemenge begann – von zu verstauenden Handtaschen und Koffern, herab hängenden Jacken, Leuten, die schon auf ihrem Gangplatz saßen und nun wieder aufstehen mussten, Kindern, die ihren Teddy aus ihrem Rucksack haben wollten, der als erstes in der Gepäckablage verstaut worden war… irgendwann leerte sich der Gang und schließlich wurden die Türen geschlossen.

„All doors in flight.“ Endlich konnte es losgehen.

 

Nicole war heute für den hinteren Bereich zuständig und bereitete schon bald den Getränkewagen vor. Als die Anschnallzeichen erloschen, kam sogleich der erste Passagier angelaufen, um auf der Toilette zu verschwinden. Es war der nervöse Herr und Nicole schmunzelte.

Als sie mit dem Getränkewagen vorfuhr, registrierte sie, dass der Mann einen Gangplatz hatte. Seine Hände trommelten unruhig auf seinen Beinen, als sie ihn erreichte und fragte, was er gerne zu trinken hätte.

„Hab’n Sie was Starkes für meinen Gaumen?“, fragte er mit einem nervösen Zucken der schmalen Augen. „Ich könnte jetzt was Gutes gebrauchen.“

Sie bot ihm einen Schnaps an.

„Und ein Wasser bitte dazu. Wir woll’n ja noch bei klarem Verstand bleiben!“ Er lachte nervös.

Nicole reichte ihm seine Wünsche und machte sich an die nächste Reihe. Hinter sich hörte sie noch einmal die etwas schrille Stimme des Mannes, der offensichtlich zu sich selbst sagte, da die beiden Plätze neben ihm komischerweise frei waren: „Der heutige Tag verspricht mit einem glorreichen Moment zu enden!“ Dann trank er den Schnaps in einem Zug aus. Nicole fühlte sich auf einmal hellwach und ein Schauer fuhr über ihren Rücken. Äußerlich ließ sie sich nichts anmerken, doch dieser Mann begann sie nervös zu machen.

Sie beendete ihre Getränkerunde und beobachtete, wie der Mann hastig sein Sandwich verschlang, das ihre Kollegin serviert hatte. Kurz darauf verschwand er erneut auf der Toilette, wo er scheinbar Ewigkeiten zubrachte. Was bitte stellte er dort an?

 

Nicole atmete tief durch und beruhigte ihre Gedanken, die plötzlich in unangenehme Richtungen streuten. Das war doch lächerlich, schallt sie sich. Womöglich war es gestern Abend doch ein prickelnder Sekt zu viel gewesen! Sie konzentrierte sich auf ihren Job und versuchte die erneut weit aufgerissenen Augen des Mannes zu ignorieren, als dieser die WC-Kabine endlich wieder verließ und mit steifem Schritt zu seinem Platz zurückkehrte. Dort saß er zunächst eine kurze Weile still da, dann lehnte er langsam seinen Kopf an den Vordersitz. Schließlich krümmte er sich immer mehr, bis seine Hände den Boden erreichten.

Nicole fiel ein Set an Pappbechern herunter.

„Alles ok?“, fragte ihre Kollegin, die neben ihr den Müll verstaute.

Nicole blinzelte. „Ja ja, war nur schusselig“, murmelte sie. In Wahrheit hatte sie überhaupt nicht mehr darauf geachtet, was ihre Hände anstellten, weil all ihre Sinne darauf fokussiert waren, was dieser Mann da tat. Nun saß er wieder gerade da und starrte den Vordersitz an.

„Ich muss mal kurz auf die Toilette, bin gleich wieder da“, sagte sie zu ihrer Kollegin und verschwand in derselben Kabine wie der nervöse Mann. Angespannt blickte sie sich um, suchte mit den Fingern alle Ablagen ab, schaute in den Toilettenpapierbehälter hinein, testete die Handseife. Doch sie konnte nichts Auffälliges finden. Entgeistert starrte sie ihr Spiegelbild an und versuchte, die gerunzelte Stirn verschwinden zu lassen. Sie wusch noch einmal ihre feuchten Hände, bevor sie die Kabine wieder verließ.

Wieder draußen sah Nicole, dass der Mann aufgestanden war und nun in der Gepäckablage herum wühlte, bis er schließlich seinen Rucksack heraus gekramt hatte. Sie konnte nicht erkennen, was er tat, nachdem er den Rucksack vor sich in die enge Lücke zwischen seinem und dem vorderen Sitz gequetscht hatte. Er saß eine Zeitlang gebückt da und hatte die Hände permanent im Innern des Gepäckstücks, bis er es schließlich unter den Vordersitz schob.

Dann blickte er sich unruhig um, erhob sich leicht aus dem Sitz, um über die anderen Köpfe zu schauen. Sah nach vorne, nach hinten. Dann wieder nach unten. Er bückte sich wieder leicht und seine Hände verschwanden unter seinem Sitz.

 

Natürlich standen bei ihren Schulungen auch Themen wie auffällige Passagiere auf dem Lehrprogramm und wie damit umzugehen war. Nicole verwunderte es, dass der Mann sich auffallend nervös verhielt, sodass man es nicht übersehen konnte. Das passte nicht so recht zu den unschönen Gedanken in ihrem Kopf. Doch beruhigend war die Tatsache genauso wenig. Sie hielt es nicht weiter aus. Da stimmte etwas nicht!  Kurz überlegte Nicole, ob sie den Mann ansprechen sollte – doch womöglich löste sie damit bei ihm den letzten Funken aus. Sie durfte ihn auf gar keinen Fall merken lassen, dass er beobachtet wurde.

Betont gelassen schritt sie den Gang entlang nach vorne bis zum Cockpit und klopfte an die Tür.

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